Soziale Gerechtigkeit
Lässt sich das messen?
Das ist klar: Wer krank ist, kann nicht arbeiten. Das gilt heute wie früher. Doch früher, vor rund 150 Jahren, war es in Deutschland doppelt schlimm, krank zu sein. Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter waren für viele Menschen gleichbedeutend mit Armut und Not. Denn damals gab es keine soziale Absicherung, also keine Gesundheitsversorgung für alle, keinen Unfallschutz am Arbeitsplatz, kein Arbeitslosengeld und keine Renten- und Pflegeversicherung – alles wichtige Errungenschaften des modernen Sozialstaats.
Sozialstaat bedeutet: Der Staat sorgt für die Absicherung seiner Bevölkerung. Dies ist das Ziel der Politik und der Gesetzgebung eines Sozialstaates. Die Gesunden helfen dabei den Kranken, die Jungen den Alten, die Arbeitenden den Arbeitslosen, nicht nur mit Taten – auch mit Geld, das über das Sozialversicherungssystem verteilt wird. So versucht der Staat, soziale Gerechtigkeit herzustellen.
Soziale Gerechtigkeit heißt: Die Lebensbedingungen und die Chancen und Möglichkeiten sollen für alle Menschen in einer Gesellschaft annähernd gleich sein.
Doch dies zu gewährleisten, ist bei gut 82 Millionen Einwohnern in Deutschland gar nicht so einfach. Besonders die Kluft zwischen Armen und Reichen wird immer wieder kritisiert. Um die sogenannte soziale Gerechtigkeit entbrennt deshalb oft Streit – wie so oft, wenn es etwas zu verteilen gibt. Wie wird Geld durch ein möglichst gerechtes Steuersystem zwischen Reichen und Armen aufgeteilt? Wie lässt sich sicherstellen, dass die Menschen heute nicht auf Kosten künftiger Generationen leben?
Oder welche Rechte erhalten ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land?
Nicht nur in der Sozialpolitik, auch in der Arbeitswelt oder beim Thema Bildung stellen sich Fragen zur Gerechtigkeit: Wie ist es möglich, Nachteile auszugleichen und für ähnliche Chancen zu sorgen? Welche Rolle sollen die Leistung und die besonderen Bedürfnisse einzelner Personen spielen?
Alle diese Fragen lassen sich nicht so leicht beantworten. Denn ein „richtig“ oder „falsch“ gibt es hier nicht. Soziale Fragen sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Einen objektiven Maßstab gibt es für soziale Gerechtigkeit also nicht. Gerecht ist, was wir dafür halten.
Ein magisches Viereck
Die Wissenschaftlerin Irene Becker und der Wissenschaftler Richard Hauser von der Universität Frankfurt unterscheiden vier Dimensionen sozialer Gerechtigkeit.
Die vier Aspekte bedingen einander und stehen teilweise im Konflikt. Irene Becker und Richard Hauser sprechen deshalb von einem „magischen Viereck“: Nicht alle Ziele lassen sich gleichzeitig erreichen. Ein Beispiel: Die Forderung „Jeder soll bekommen, was er zum Leben braucht“ (Bedarfsgerechtigkeit) widerspricht der Forderung „Was jemand bekommt, soll sich nach seiner Arbeitsleistung richten“ (Leistungsgerechtigkeit).
Hinter der Generationengerechtigkeit verbirgt sich das Ziel, eine Generation nicht schlechter zu stellen als die vorhergehende und die zukünftigen. Junge und alte Menschen müssen demnach einen Weg finden, Ressourcen, Lasten und Pflichten fair zu verteilen. Das betrifft zum Beispiel die Themen Umweltschutz sowie Alterssicherung und Rente.
Chancengerechtigkeit bedeutet: Jeder Mensch soll die gleichen Möglichkeiten haben, sein Potenzial zu entfalten. Dazu gehört auch, dass alle gleiche Rechte haben – unabhängig von Herkunft und sozialem Status, Geschlecht, Alter, Behinderung oder kulturellem Hintergrund.
In der Realität haben Menschen jedoch unterschiedliche Startvoraussetzungen. So beeinflusst das Bildungsniveau der Eltern nach wie vor, welche weiterführende Schule ein Kind besucht. Je niedriger der Bildungsabschluss der Eltern ist,
umso seltener gehen ihre Kinder auf ein Gymnasium. Da ein niedriger Bildungsabschluss häufiger mit niedrigem Einkommen und höherer Gefahr von Arbeitslosigkeit einhergeht, hängen wiederum auch die finanzielle Situation der Eltern und Bildungschancen der Kinder zusammen.
Ein Beispiel: Die Option, im Rahmen eines Austauschprogramms für ein Jahr ins Ausland zu gehen und dabei Erfahrungen und Sprachfähigkeiten zu sammeln, steht nur wenigen offen. Zuletzt nahmen nach Zahlen der Beratungsgesellschaft Weltweiser knapp 16.000 Schülerinnen und Schüler aus Deutschland an einem solchen Programm teil. 82 Prozent von ihnen gingen auf ein Gymnasium. „Schüleraustausch ist ein gymnasiales Phänomen“, folgern die Berater.
Was denken Jugendliche über soziale Gerechtigkeit in Deutschland?
Gesetze für mehr Gerechtigkeit
Der Staat kann versuchen, solche ungleichen Zugänge zu Bildung abzufedern und Kindern faire Chancen zu ermöglichen. So erhalten Eltern mit niedrigen Einkommen zusätzlich zum Kindergeld noch einen höheren Kinderzuschlag und sie müssen keine Kita-Gebühren zahlen. Außerdem wurde mit dem Starke-Familien-Gesetz 2019 das sogenannte Bildungspaket (Leistungen für Bildung und Teilhabe) verbessert. Es hilft Kindern aus Familien, die Grundsicherung erhalten oder nur über ein geringes Einkommen verfügen, in der Freizeit, Schule oder Kita die gleichen Möglichkeiten zu erhalten, wie Kinder aus Familien mit höheren Einkommen. So bekommen die Kinder zusätzliche Leistungen für eine Mitgliedschaft im Sportverein, für ein- und mehrtägige Ausflüge (zum Beispiel Klassenfahrten), Schulbedarf und Nachhilfe. Für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in der Schule oder Kita sowie die Schülerbeförderung müssen ihre Eltern nichts mehr dazuzahlen.
„Bei der ökologischen Transformation, die uns alle begleiten wird, ist es wichtig, dass der Fokus auf soziale Gerechtigkeit nicht verloren gehen darf. Klima- und Umweltschutz sowie soziale Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. Dazu gehört auch, dass ein nachhaltiges Leben in der Stadt und auf dem Land ermöglicht wird.“
Dante Davis studiert Amerikanistik, Anglistik und Öffentliches Recht an der Universität Potsdam und war Mitglied im Jugendprojektbeirat der Jugendstudie „Zukunft? Jugend fragen!“ des Bundesumweltministeriums.