kaputte Schuhe

Armut und Reichtum

Ungleiche Verteilung von

Vermögen und Einkommen

Kann es sein, dass es in einem reichen Land wie Deutschland Armut gibt? Deutschland ist doch ein Sozialstaat! Ja, es gibt sie trotzdem, denn Armut hat viele Facetten und wirkt sich meist auf viele Lebensbereiche aus. Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob man eine Wohnung oder zu essen hat, sondern welche Lebenschancen man hat, also auf Bildungserfolg, Erwerbschancen, Gesundheit oder gesellschaftliche und politische Teilhabe. In Deutschland gilt noch immer zu häufig: Haben die Eltern wenig finanzielle Mittel, sind auch die Kinder benachteiligt. Unterschiede im Lernerfolg in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft lassen sich schon im Kleinkindalter beobachten und können sich ein Leben lang auswirken, etwa auf spätere Berufschancen. Materieller Mangel zu erleben ist außerdem eine große psychische Belastung. Häufig sind damit Ängste und Scham verbunden.
Armut in Deutschland ist eine andere Art von Armut als die, die in den ärmsten Ländern der Welt auftritt. Die Menschen in Deutschland haben zeitlich unbefristeten Anspruch auf Leistungen der Mindestsicherungssysteme (z.B. das Bürgergeld). Damit stehen ihnen Mittel zur Verfügung, um die Grundbedürfnisse zu decken, und auch die Wohnkosten werden übernommen. Der Zugang zu dem auch im internationalen Vergleich sehr guten Gesundheits- und Bildungssystem ist ebenfalls kostenlos. Auch im europäischen Vergleich ist damit die soziale Absicherung in Deutschland eher hoch.

In Deutschland und Europa sowie in vielen anderen Industrieländern beobachten wir daher vor allem relative Armut.

Ungleichheit: Die Schere zwischen Arm und Reich

In Geld gemessene Ungleichheit wird danach beurteilt, wie Einkommen und Vermögen unter den Bevölkerungsmitgliedern verteilt sind. Der Gini-Koeffizient, der immer zwischen 0 (bei dem jeder Mensch das Gleiche hätte) und 1 (bei dem eine Person alles hätte) liegt, beträgt für Deutschland rund 0,3 bei den Einkommen und zwischen 0,7 und 0,8 beim Vermögen. Das heißt, die Ungleichheit bei den Vermögen ist deutlich höher als bei den Einkommen.

„Wie das mit dem Armsein und dem Glück wirklich zusammenhängt, habe ich zum ersten Mal selbst an meinem achten Geburtstag erlebt. Ich hatte ein paar Freunde eingeladen, nur fünf, mehr ging nicht, zu wenig Platz in der Wohnung. Wir saßen drinnen im Kinderzimmer, das zur Hälfte mit den Sachen meines Bruders vollgestopft war. Draußen regnete es, der Kuchen war gegessen, der Topf geschlagen, und jetzt brachte uns meine Mutter weiße T-Shirts und ein paar Eddings, und wir durften die bemalen und zerschneiden und uns Verkleidungen daraus basteln. Ich fand, das war eine prima Idee. Aber meine Freunde irgendwie nicht so. Bei Tobi gab es ein riesiges Sommerfest im Freien mit Grillen und Toben und Feuerwerk am Abend. Und jetzt saßen wir hier auf dem Boden und schnitten und malten an weißen T-Shirts herum, und mir ging auf, dass meine Freunde das irgendwie langweilig fanden.“

Sozialarbeiter und Kinderbuchautor Benjamin Tienti

Geht die Schere weiter auseinander?

In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Werte, mit denen in Deutschland Ungleichheit gemessen wird, kaum verändert, sondern liegen mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau. Angesichts der guten Entwicklung der Wirtschaft und der sinkenden Arbeitslosigkeit hatten allerdings viele Forschende erwartet, dass sich „die Schere schließt“, also die Ungleichheit abnimmt.

Warum hat die Ungleichheit nicht abgenommen? Durch das deutliche Einkommenswachstum haben alle Einkommensbereiche mehr Geld zur Verfügung als noch vor zehn Jahren. Allerdings haben die Mittelschicht und höhere Einkommensbereiche stärker vom Wirtschaftswachstum profitiert als Menschen, die keine Arbeit haben oder nur wenige Stunden arbeiten können. Auch sind über eine Million geflüchtete Menschen nach Deutschland gekommen, die auch in der Arbeitswelt erst einmal Fuß fassen müssen.

 

Definitionen von Armut und Einkommen

Absolute Armut bezeichnet ein Leben am Rande des Existenzminimums (existenzielle Armut). Menschen in absoluter Armut haben kaum Zugang zu lebenswichtigen Gütern wie Nahrung und Trinkwasser. In Geld bemessen sind Menschen nach einer Definition der Weltbank „absolut arm“, wenn sie von weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag leben müssen, das entspricht gegenwärtig rund 1,97 Euro. Diese Definition ist in erster Line auf Entwicklungsländer anwendbar. Absolute Armut ist in Deutschland nahezu ausgeschlossen und beschränkt sich auf Menschen, die trotz großer Bedürftigkeit vorhandene sozialstaatliche Leistungen nicht in Anspruch nehmen.

In relativer Armut leben Menschen, deren Lebensstandard unterhalb des Standards einer Gesellschaft ist. Dies ist die Definition, die für Industrieländer insbesondere von Bedeutung ist. Von relativer Einkommensarmut spricht man, wenn das Einkommen deutlich unter dem mittleren Einkommen liegt. Menschen mit einem Einkommen unter der Armutsrisikoschwelle können je nachdem, in welcher Art von Wirtschafts- und Sozialsystem sie leben, möglicherweise nur eingeschränkt an Bildung, Gesundheitsleistungen und dem gesellschaftlichen Leben teilhaben.

Die Armutsrisikoschwelle liegt bei 60 Prozent des mittleren Einkommens. Wer weniger als diesen rechnerischen Wert zur Verfügung hat, gilt in Deutschland als armutsgefährdet.

Das mittlere Einkommen oder Medianeinkommen liegt genau in der Mitte: Die Zahl der Haushalte mit höheren Einkommen ist genauso groß wie die Zahl derer mit niedrigeren.

Die Armutsrisikoquote misst die relative Armut. Sie gibt also an, wie hoch der Anteil der Menschen ist, die mit ihrem Einkommen unter der Armutsrisikoschwelle liegen.

Wer unter erheblichem Mangel leidet, kann sich viele Dinge nicht leisten, die als üblich gelten. Zum Beispiel: die Wohnung ausreichend zu heizen, sich eine Waschmaschine zu kaufen, jährlich in den Urlaub zu fahren oder die Miete zu zahlen.

Sind wirklich immer mehr Menschen arm?

Das kommt auf die Betrachtungsweise an.

 

Die relative Armut, also die Zahl der Menschen, die aufgrund eines vergleichsweise niedrigen Einkommens armutsgefährdet sind, ist in Deutschland leicht gestiegen. Zu dem Schluss kommt die Bundesregierung in ihrem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht. 2005 waren 14,7 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, 2023 bereits 16,6 Prozent.
Allerdings: Die Zahl ist zuletzt auch deshalb gestiegen, weil viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind. Ihnen fällt es zunächst schwer, einen Job zu finden.

 

Absolute Armut spielt in Deutschland wie oben beschrieben nahezu keine Rolle. Dafür sorgen in Deutschland staatliche Sozialleistungen („Mindestsicherungsleistungen“), die das sozio-kulturelle Existenzminimum garantieren. Der Anteil der Bevölkerung, der auf solche Sozialleistungen angewiesen war, sank von 9,7 Prozent im Jahr 2015 auf 8,5 Prozent im Jahr 2022.

 

Auch der erhebliche materielle Mangel hat in dem Zeitraum deutlich abgenommen: Immer weniger Menschen müssen auf einen angemessenen Lebensstandard aus finanziellen Gründen verzichten.

Armut und Reichtum

in Zahlen

Anteil der Weltbevölkerung, der in absoluter Armut lebt(e) Vorhersagen zeigen, dass durch die Corona-Pandemie die weltweite Armut erstmals seit 1998 wieder zunehmen wird.

Anteil der Bürger*innen in Deutschland, die 2008 mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ zu kämpfen hatten: 5,5 Prozent

Anteil der Bürger*innen in Deutschland, die 2019 mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ zu kämpfen hatten: 2,6 Prozent

Anteil der Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss, die ein Gymnasium besuchen, im Jahr 2019: 5,9 Prozent

Jedes achte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet.
Ohne Sozialtransfers wären es 30 Prozent der Minderjährigen!

Durchschnittliches Nettovermögen – also Vermögen minus Schulden – eines Haushalts im Westen im Jahr 2018: 182.000 Euro

Durchschnittliches Nettovermögen eines Haushalts im Osten im Jahr 2018: 88.000 Euro

Anteil der Kinder von Eltern mit Abitur, die ein Gymnasium besuchen, im Jahr 2019: 67,1 Prozent

Eine Hälfte der Haushalte in Deutschland besitzt 97,5 % des Nettovermögens.

Die andere Hälfte der Haushalte besitzt 2,5 % des Nettovermögens.

Höhe des Vermögens, das 2019 in Deutschland verschenkt oder vererbt wurde: 79,8 Milliarden Euro

Anteil der Bürger*innen in der Europäischen Union, die 2019 mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ zu kämpfen hatten: 5,5 Prozent

Quellen: Vereinte Nationen: Ziele für nachhaltige Entwicklung, Berichte 2017 und 2020. Eurostat (ILC_MDDD11): Unter erheblicher materieller Deprivation leidende Personen, Datenstand 2021. Bundesministerium für Arbeit und
Soziales: 6. Armuts- und Reichtumsbericht 2021. Statistisches Bundesamt: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2019. Statistisches Bundesamt: Schulbesuch nach ausgewählten Schularten und höchstem allgemeinen
Schulabschluss der Eltern 2019.